Solidarische Lernprozesse – vom Crossover, RRG und dem notwendigen Blick auf die sozialen Bewegungen
ISM-Sprecherin Franziska Drohsel im swp
- Jörg Farys / Fridays for Future (CC BY 2.0)
Als wir vor gut zehn Jahren das Institut Solidarische Moderne gründeten, schien die Situation festgefahren. Im Bundestag gab es eine rot-rot-grüne Mehrheit in der Sitzverteilung, aber wenig Aussicht auf ihre Verwirklichung in einer Regierungskoalition. Aber es entstanden rot-rot-grüne Gesprächskreise und Überlegungen, wie die gesellschaftlichen Mehrheiten auch zukünftig in eine parlamentarische Mehrheit verwandelt werden könnten. Denn klar war schon damals, dass es nicht um das Addieren von Zahlen gehen konnte, sondern dass ein belastbares politisches, progressives Projekt nur gemeinsam aus einem Crossover aus kritischer Wissenschaft, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und den drei Parteien, Linkspartei, Grüne und der SPD, entwickelt werden müsste. Damals bestand eine der Herausforderungen darin, ein solches Projekt gerade in den Parteien denkbar werden zu lassen.
Starke Bewegungen, schwache Parteien
Die Herausforderungen heute sind gänzlich andere. Ein solches Projekt ist zwar denkbar geworden. SPD, Grüne und die Linkspartei lehnen eine Zusammenarbeit zwar nicht mehr grundsätzlich ab. Auf kommunaler und auch auf Landesebene wurden rot-rot-grüne Bündnisse geschlossen. Auch ein Bündnis unter grüner Kanzler*inschaft wird zumindest von SPD-Seite nicht mehr grundsätzlich für unmöglich gehalten, wie Saskia Esken Anfang August betonte. Inwieweit sich die Parteien zu einem progressiven Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei verhalten, ist aber für 2021 nicht ausgemacht. Da wird es auf die progressiven Kräfte innerhalb der drei Parteien ankommen, dieses sowohl strategisch als auch inhaltlich zu skizzieren und dafür parteiintern aber auch öffentlich zu kämpfen.
Nicht zu unterschlagen ist aber auch, dass es rein rechnerisch schon seit einiger Zeit im Bundestag nicht mehr für Rot-Rot-Grün reicht. Damit hat es die gesellschaftliche Linke grundsätzlich mit einer paradoxen Entwicklung zu tun. Auf der einen Seite gibt es beeindruckend viele progressive Bewegung (als Beispiele #metoo, #fridaysforfuture, #blacklivesmatter, #unteilbar, #hambi und noch viele andere) mit teils beachtlicher Reichweite. Auf der anderen Seite spiegelt sich dies weder in den Parteien noch in den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag wider.
Während es diese sozialen Bewegungen geschafft haben, Öffentlichkeit für ihre Anliegen zu erzeugen, Sympathien zu erkämpfen und reale Veränderungen durchzusetzen, haben es die Parteien von Rot-Rot-Grün und damit auch das Crossover schwer, linke Themen zu setzen. Daher kann es lohnen, sich nicht nur anzuschauen, was bei diesen Bewegungen so gut funktioniert (hat), sondern zu beginnen, Crossover nicht von den Parteien her zu denken, sondern bei den Bewegungen anzusetzen.
Die Impulse aus den Bewegungen aufnehmen
Zum Teil erstaunt z.B. bei #metoo die ungeheure Effizienz, mit der innerhalb kürzester Zeit feministische Themen nicht nur auf die Tagesordnung gesetzt wurden, sondern drastische Auswirkungen real zu sehen waren. Männer aus Führungspositionen wurden entlassen, Strafverfahren eingeleitet. Im Zuge dieser Debatte konnte beobachtet werden, wie Männer vorsichtig neues Verhalten zu erlernen versuchten. Dass sexualisierte Gewalt nicht plötzlich in Erscheinung tritt, sondern mit ihrer Thematisierung Machtverhältnisse und die gesamte Verfasstheit unserer Gesellschaft zu diskutieren sind, war in der Bewegung konstant präsent. Bis heute gibt es in den südamerikanischen Ländern und Spanien enorme Frauenstreiks.
Nicht nur an der Sozialdemokratie, sondern auch am sonstigen rot-rot-grünen Lager schien die Bewegung mehr oder minder vorbeizurauschen. Es gab wenig Bezüge, kaum ein Aufgreifen von Impulsen. Ähnlich ist es mit Fridays for Future, die es nicht nur geschafft haben, das Thema der Klimagerechtigkeit auf die Titelseiten der Zeitungen zu setzen, sondern darüber hinaus über einen großen Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Dass die Sozialdemokratie sich hier in einem Dilemma zwischen ihren traditionell der Kohle- und der Automobilindustrie sehr verbunden fühlenden Genoss*innen und all jenen befindet, die in den 80ern schon für Windkraft und Solarenergie auf die Straße gegangen sind, liegt auf der Hand. Aber genau diese Auseinandersetzung in, mit und durch die Bewegung angestoßen zu führen, stünde an.
Auch Black Lives Matter ist eine Bewegung, die nicht nur in den USA stattfindet, sondern auch hier. Sie hat eine Diskussion über die Verankerung von institutionellem Rassismus in der Gesellschaft forciert und seit mehreren Jahren gibt es Bündnisse, die eine migrantisch bzw. postmigrantische Perspektive ins Zentrum stellen. Die große #unteilbar-Demo und die vielen Aktivitäten von #unteilbar seither haben beispielhaft gezeigt, wie verschiedene Kämpfe zusammen gedacht werden können und sich eben nicht zwangsläufig fragmentieren müssen – insbesondere auch, wie sich Gewerkschaften an progressiven Bündnissen beteiligen und Teil dessen werden können. Es gibt eine große Zahl von alternativen Projekten, die aus Bewegungen entstanden sind, die zeigen, wie eine andere, solidarische Lebensweise, aussehen kann. Daraus kann gelernt werden.
Parteien und Bewegungen zusammendenken
Die progressiven Parteien sollten Akteur*-innnen innerhalb, Ansprechpartner*in für und Bündnispartner*in den sozialen Bewegungen und für die alternativen Projekte sein. Im Idealfall können sich die in der Bewegung und in den Parteien aktiven Personen in ihren Parteiauseinandersetzungen auf die Bewegungen beziehen und den Elan, die Impulse der Bewegungen in die Parteien tragen.
Sie können in den Bewegungen mitarbeiten und auch die Bewegungen können von der Auseinandersetzung profitieren. Denn auch sie befinden sich teilweise in einem Dilemma. Während sich teilweise nur noch rein appellativ an die politische Repräsent*innen gerichtet wird, wenden sich andere teils vollständig ab und organisieren ihre Anliegen selber. Die Durchsetzung von politischen Anliegen in Gesetzen und Institutionen sind Aspekte, die Parteien einbringen können. Inhaltliche Anknüpfungspunkte für ein progressives Crossover-Bündnis gibt es mannigfaltige. Die Corona-Krise zeigt gerade wie im Brennglas auf die gesellschaftlichen Verwerfungen. Da stellen sich nicht nur die Fragen der ganz konkreten Arbeitsbedingungen für die systemrelevanten Berufe (Pfleger*innen, Erzieher*innen, Verkäufer*innen, um nur drei zu nennen) sondern auch ganz grundsätzliche Fragen, was im Sinne der Daseinsvorsorge gesellschaftlich organisiert sein sollte, wo Privatisierungen der Vergangenheit ein Fehler waren und Marktlogiken anstelle von der Orientierung an gesellschaftlichen Bedarfen Infrastrukturbereiche ausgedünnt haben. Stichworte sind hierbei Gesundheitsversorgung, Grundsicherung, Reichtumsverteilung oder auch die Frage des Wohnraums und der Mieten. Letzteres wurde z.B. in Berlin von der Mieter*innen-Bewegung auf die Tagesordnung gesetzt und im letzten Jahr hat die rot-rot-grüne Regierung mit dem Mietendeckel ein vollständig neues Instrument für eine Reglementierung des Wohnungsmarktes durchgesetzt.
Ein erster Schritt in eine solidarische Transformation
Auch progressive Bewegungen haben ihre Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten. Diskutiert man aber ernsthaft über ein progressives linkes Projekt, das sich vielleicht auch in Bundestagsmehrheiten niederschlägt, führt kein Weg daran vorbei, Bewegung, progressive Zivilgesellschaft, Wissenschaft und die progressiven Parteien zusammenzudenken, wie es Ausgangspunkt des Instituts Solidarische Moderne war und ist. Ansatzpunkt dabei sollte sein, dass in der Bewegung, im Verbinden von Kämpfen, in den gelebten Praxen der Bewegung bereits etwas Neues entstanden ist und weiter entsteht. So mühselig es ist, so wird es ohne einen genauen Blick auf die einzelnen Auseinandersetzungen und ein Agieren in ihnen nicht gehen. In ihnen wird das Neue sichtbar – zwischen den Menschen, die andere Beziehungen zueinander eingehen, in der kollektiven Organisierung, die neue Formen schafft und in den Menschen selber. Die Aufgabe einer linken Regierung müsste es sein, die neuen gelebten emanzipatorischen Praxen aufzugreifen und damit ihre Verbreiterung zu unterstützen. Das wäre dann ein kleiner erster Schritt in eine Transformation.
In meinen Augen heißt das: die Annahme der Vielfalt, die Bereitschaft, von anderen Kämpfen zu lernen, sich solidarisch aufeinander zu beziehen und nicht die eine Antwort auf alles zu erwarten, sondern diese in den konkreten Kämpfen kollektiv zu entwickeln. Dies könnte zu einem Fundament beitragen, auf dem ein progressives Transformationsprojekt stehen kann.
Der Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der spw-Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft erschienen und kann wie viele andere Artikel auf der Website als pdf-Datei heruntergeladen werden.