Ist die Forderung nach einer Senkung der Mehrwertsteuer aus linker Sicht richtig?
Beitrag von Axel Troost, Geschäftsführer der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und ISM-Vorstandssprecher
- zasabe
Wegen der dramatisch gestiegenen Energiepreise und der insgesamt hohen Inflation wird inzwischen bis weit in die CDU anerkannt, dass es für Menschen mit schmalerem Geldbeutel dringend Unterstützungsmaßnahmen bzw. Entlastungen bedarf.
Von unterschiedlichster Seite wird dabei bisweilen auch eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Güter des täglichen Bedarfs ins Gespräch gebracht. Solche Forderungen nach Mehrwertsteuersenkungen scheinen populär zu sein, von daher steht auch die gesellschaftliche Linke vor der Frage, ob sie diese Forderung aufgreifen soll oder ob sie eine bessere Alternative anbieten kann, die ebenfalls populär vertretbar ist.
Aus Sicht der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik sollte der Staat, statt viel Geld für eine Senkung der Mehrwertsteuer für Alle auszugeben, mit demselben Geld lieber gezielt Menschen mit niedrigem und mittleren Einkommen bzw. „die weniger gut-situierte Hälfte der Gesellschaft“ mittels Direktzahlungen unterstützen. Berechnungen zeigen, dass durch solche Direktzahlungen weit mehr als doppelt so viel Unterstützung bei diesen Menschen ankommt. Wie groß der Handlungsbedarf ist, hat der Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Ulrich Schneider (2022)[1] kürzlich sehr treffend auf den Punkt gebracht, als er schrieb, „dass wir derzeit nicht nur die höchste Inflationsrate seit Jahrzehnten haben, sondern mit 16,1 Prozent auch die höchste Armutsquote und mit 15 Prozent auch eine der höchsten Sparquoten“ haben.
Mehrwertsteuersenkung: Worum geht es diesmal?
Vorschläge zur Senkung der Mehrwertsteuer begegnen uns regelmäßig, insbesondere in Krisenzeiten. Anders als bei der letzten größeren Diskussion im Jahr 2020 soll eine Mehrwertsteuersenkung aber diesmal nicht durch sinkende Preise einen Konjunkturimpuls setzen, sondern den starken Preisanstieg bei Alltagsgütern wie Lebensmitteln oder Kraftstoffen bremsen.
Die Mehrwertsteuer ist eine regressiv wirkende Steuer, d.h. sie trifft Menschen mit niedrigen Einkommen anteilig härter als Besserverdiener, weil erstere einen prozentual sehr viel höheren Anteil ihres Einkommens für Alltagskonsum und somit für die Mehrwertsteuer ausgeben (müssen). Von daher lehnen die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und die Linken im rot-rot-grünen Spektrum generelle Erhöhungen der Mehrwertsteuer aus verteilungspolitischen Gründen grundsätzlich ab. In absoluten Zahlen betrachtet ist die Belastungswirkung allerdings umgekehrt, denn je höher die Konsumausgaben eines Haushaltes sind, desto höher ist der absolut entrichtete Betrag für die Mehrwertsteuer. Das gilt umso mehr, weil der Anteil von Konsumausgaben für Produkte mit dem nicht-ermäßigten MwSt.-Satz (19 Prozent) bei einkommensstärkeren Haushalte stark zunimmt.
Wie wirkt die Mehrwertsteuer auf die Preise?
Auch wenn wir Mehrwertsteuererhöhungen ablehnt, ergibt sich daraus nicht im Umkehrschluss, dass eine Mehrwertsteuersenkung ein geeignetes Mittel zur Umverteilung von Oben nach Unten ist. Die Preisbildung reagiert auf Änderungen der Mehrwertsteuer nämlich mindestens teilweise asymmetrisch: Erhöhungen werden in der Regel in vollem Umfange an die Endverbraucher*innen weitergegeben, während Senkungen nur bei manchen Waren und/oder nicht in vollem Umfange weitergegeben werden. Der Umfang dieser Teilweitergabe variiert erheblich. Bei einzelnen dauerhaften Senkungen (z.B. auf Hotelübernachtungen 2010 oder Frauenhygieneartikel 2020) ist die Entlastung der Verbraucher*innen sehr gering bzw. kaum messbar ausgefallen. Anders ausgedrückt: was vorher als Mehrwertsteuer an den Staat geflossenen ist, ist nach der Absenkung einfach nur direkt als Extragewinn in die Taschen der Hersteller und Hoteliers geflossen.
Anders sieht es für die Corona-bedingte temporäre MwSt.-Senkung in der zweiten Jahreshälfte 2020 aus. Damals wurden der ermäßigte Satz von 7 auf 5 Prozent und der reguläre Satz von 19 auf 16 Prozent für 6 Monate reduziert. Das DIW schätzt, dass diese Mehrwertsteuersenkung in diesem Zeitraum im Durchschnitt zu ca. 50 Prozent an die Verbraucher*innen weiter gegeben worden sei (DIW aktuell Nr. 62 vom Mai 2021), das IFO-Institut schätzt die Weitergabe für Supermarktsortimente auf „fast vollständig“ (ifo-Schnelldienst 13/2020, November 2020). Die Bundesbank bezifferte das Maß der Weitergabe der Mehrwertsteuersenkung auf durchschnittlich ca. 60 Prozent: bei Nahrungsmitteln und Industrieprodukten fast vollständig und bei Dienstleistungen nur zu einem Drittel. Für Diesel und Benzin kam Monika Schnitzer, Mitglied des Sachverständigenrates, auf Weitergabequoten auf 83 bzw. 61 Prozent. Diese Untersuchungen zur temporären MwSt.-Senkung 2020 beziehen sich aber nur auf die Weitergabe der Senkung, nicht auf die Weitergabe der sich daran anschließenden Wieder-Anhebung zum 1.1.2021
Eine breitere Studie (Benzarti u.a. 2020[2]), die eine Vielzahl von MwSt.-Senkungen und Anhebungen in der OECD zwischen 1996 und 2015 untersucht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass MwSt.-Anhebungen in doppelt so starkem Maße bzw. in doppelt so vielen Fällen durch Preissteigerungen weitergegeben wurden wie MwSt.-Senkungen. Insbesondere bei nur temporären Senkungen kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass sich danach für Jahre ein höheres Preisniveau herausbildet.
Mehrwertsteuersenkung: Wer wird wie viel entlastet?
Tabelle 1: Wieviel mehr gaben reiche Haushalte im Vergleich zu armen Haushalten 2018 für die Mehrwertsteuer aus? Vergleich für die Haushaltstypen „Alleinlebende“, „Paare“ und „Paare mit zwei Kindern“ zwischen dem Zehntel („Dezil“) mit dem niedrigsten und dem Dezil mit dem höchsten Haushaltsnettoeinkommen.
Quelle: Berechnungen auf Grundlage einer Sonderauswertung der EVS 2018 nach Dezilen durch das Statistische Bundesamt im Mai 2022 |
Haushalte mit hohen Einkommen geben deutlich mehr für Lebensmittel aus als arme Haushalte. Da aber – anders als bei Fernreisen, Pkw, Eigenheimen oder Yachten – alle Menschen -Nahrung konsumieren müssen, ist die Spreizung mit ca. 57 Prozent bei Nahrungsmitteln im Vergleich zu anderen Warengruppen sogar sehr gering (vgl. Tabelle 1). Für Bekleidung und Schuhe geben reiche Alleinlebende z.B. fast das Fünffache aus wie arme Alleinlebende.
In absoluten Zahlen gab das unterste Zehntel (mit dem niedrigsten Nettoeinkommen) der Alleinlebenden im Jahr 2018 91,14 € für die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel aus, während das oberste (mit dem höchsten Nettoeinkommen) Zehntel der Alleinlebenden 142,77 € zahlte. Im Umkehrschluss bekäme eine reiche Alleinlebende bei Senkung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Lebensmittel von 7 auf 0 Prozent 51,63 Euro mehr im Jahr vom Staat „geschenkt“ als eine arme Alleinlebende (vgl. Tabelle 2).
Derzeit schätzt das DIW die jährlichen Steuereinnahmen aus der ermäßigten Mehrwertsteuer auf ca. 16,2 Mrd. Euro, die bei einer Senkung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf 0% wegfielen. Ca. zwei Drittel davon (ca. 10-10,5 Mrd. Euro) entfallen auf die MwSt. auf Lebensmittel. Würde man eine MwSt.-Senkung nur auf Obst, Gemüse und Getreideprodukte beschränken, kämen Steuerausfälle von ca. 5 Mrd. Euro zusammen.
Was also tun?
Da eine Mehrwertsteuersenkung besserverdienenden Haushalten mehr Steuern erlässt als den eigentlich bedürftigen ärmeren Haushalte, aber genau diese wohlhabende Haushalte gar nicht vom Staat vor der Teuerungswelle „beschützt“ werden müssen, erscheint eine pauschale Mehrwertsteuersenkung als wenig geeignetes Instrument.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik plädiert stattdessen für zielgerichtete Direktzahlungen, um dort zu helfen, wo die Hilfe wirklich benötigt wird. Durch eine Nicht-Förderung von Nicht-Bedürftigen steht außerdem deutlich mehr Geld für die zur Verfügung, die die Hilfe dringend brauchen. Oder mit Ulrich Schneider: „Die adäquate Antwort auf die aktuelle Inflation wäre eine offensive Sozialpolitik, die nicht auf das Prinzip Gießkanne, Wählerbefriedung und Einmalzahlungen setzt, sondern auf eine nachhaltige Armutsbekämpfung. Und die allen Menschen im Lande wieder soziale Sicherheit gibt, nicht nur jenen weiter oben auf der Einkommensskala. Dies kann nur zielgenau funktionieren, da jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann.“
Drei Ausgestaltungsvarianten für solche Direktzahlungen haben wir dabei in einem Arbeitspapier durchgerechnet (Tabelle 2, zu den Berechnungen[3]). Ausgangspunkt ist, was mit den ca. 8,4 Mrd. Euro, die eine MwSt.-Senkung auf 0 für alle Nahrungsmittel 2018 gekostet hätte, alternativ finanzierbar gewesen wäre. Zu aktuellen Preisen dürften die entsprechenden Zahlen für heute um ca. 20-25 Prozent höher ausfallen.
Variante 1: Direktauszahlungen an die „untere Hälfte der Gesellschaft“
In diesem Fall würden Direktauszahlungen von jeweils knapp 220 Euro pro Kopf (für Minderjährige im Durchschnitt 110 Euro) an ca. 41,5 Mio. Personen ausgezahlt, deren Pro-Kopf-Einkommen unterhalb des Mittelwerts liegt. Aus Sicht eines Single-Haushalts, der zu den 10 Prozent mit dem niedrigsten Nettoeinkommen gehört (ärmstes „Dezil“ der Single-Haushalte) wäre das fast das Zweieinhalbfache bzw. eine Besserstellung um 141% im Vergleich zu einer Mehrwertsteuersenkung für Nahrungsmittel. Bei einem Paar-Haushalt aus dem ärmsten Dezil entspräche das einer Besserstellung um 115%. Eine Familie mit zwei Kindern aus dem ärmsten Dezil würde im Vergleich zur entsprechenden Mehrwertsteuersenkung um 129% bessergestellt, erhielte also das 2,3-fache.
Variante 2: Direktauszahlung doppelt so hoch wie Entlastung durch Mehrwertsteuer-Senkung
Dieser Fall geht von dem Ziel aus, dass die ärmsten Single-Haushalte mindestens doppelt so stark entlastet werden sollen wie durch eine MwSt.-Senkung (daher durchgängig die Besserstellung um 100% für Haushaltstyp 1). Für 2018 läge der entsprechende Betrag bei ca. 182 Euro. Familien mit zwei Kindern erhielten eine Direktzahlung von knapp 546 Euro (das Dreifache von Haushaltstyp 1, da Minderjährige nur die Hälfte der Erwachsenen erhalten). Da diese Entlastung niedriger als im Fall 1 ist, können insgesamt mehr Haushalte begünstigt werden. Statt „nur“ die untere Hälfte der Gesellschaft zu entlasten, könnten so über 60 Prozent der Bevölkerung eine Direktzahlung erhalten, wir nehmen in diesem Modell also eindeutig „die Mehrheit der Bevölkerung mit“.
Variante 3: Direktauszahlung an alle Armutsgefährdeten
Der Fall 3 konzentriert die Entlastung noch sehr viel stärker auf die ärmeren Haushalte. Die konkrete Direktzahlung kann dadurch natürlich deutlich höher ausfallen. Das Statistische Bundesamt gibt den Anteil der Armutsgefährdeten an der Gesamtbevölkerung für 2018 mit 16,0% an. Entscheidend muss sein, ab welcher Einkommensarmut wir bei weiter steigenden Preisen davon ausgehen müssen, dass z.B. zunehmend Mangelernährung und Hunger eintreten. Solche Missstände abzuwenden muss natürlich Priorität genießen, andererseits können derartig krasse Missstände aber natürlich nicht allein über das Instrument einer Direktzahlung (und noch viel weniger über eine Mehrwertsteuersenkung) beseitigt werden.
Tabelle 2: Wer spart wieviel bei einer Mehrwertsteuersenkung für Nahrungsmittel auf 0% (Steuerausfälle 2018 8,4 Mrd. Euro) und was könnte man alternativ mit 8,4 Mrd. Euro finanzieren? |
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bei MwSt.-Senkung |
bei Direktauszahlung pro Kopf |
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Wieviel MwSt. pro Jahr spart das |
1. an „die untere Hälfte der Gesellschaft“ |
2. doppelt so hoch wie bei MwSt.-Senkung |
3. an alle Armutsgefährdeten |
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ärmste Zehntel |
reichste Zehntel |
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Besser-stellung um |
Besser-stellung um |
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Besser-stellung um |
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Alleinlebende |
91,14 € |
142,77 € |
219,59 € |
141% |
182,28 € |
100% |
631,03 € |
592% |
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Paare ohne Kinder |
187,69 € |
274,76 € |
403,86 € |
115% |
364,56 € |
94% |
1.262,06 € |
572% |
|
Paare mit 2 Kindern |
264,86 € |
397,76 € |
605,79 € |
129% |
546,84 € |
106% |
1.893,09 € |
615% |
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Begünstigter Teil der Bevölkerung |
10,0% |
10,0% |
50,0% |
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60,2% |
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16,0% |
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Quelle: Berechnungen für 2018 auf Grundlage von Statistisches Bundesamt, Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 2018 nach Dezilen
Benzarti, Youssef/Carloni, Dorian/Harju, Jarkko/Kosonen, Tuomas (2020): What Goes Up May Not Come Down: Asymmetric Incidence of Value-Added Taxes; Journal of Political Economy, 2020, Bd. 128, Nr. 12. https://www.journals.uchicago.edu/doi/epdf/10.1086/710558[4]
Schneider, Ulrich (2022): Entlastung für alle? – zur haushalts- und sozialpolitischen Fragwürdigkeit des Entlastungspakets, Mai 2022.
Ders., Ampel-Entlastungspaket: Das Prinzip Gießkanne. Aus : Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2022 https://www.axel-troost.de/de/article/10478.entlastung-fuer-alle.html[5]
Links:
- https://www.axel-troost.de/de/article/10478.entlastung-fuer-alle.html
- https://www.journals.uchicago.edu/doi/epdf/10.1086/710558
- https://www.axel-troost.de/kontext/controllers/document.php/3558.0/c/a34d5d.pdf
- https://www.journals.uchicago.edu/doi/epdf/10.1086/710558
- https://www.axel-troost.de/de/article/10478.entlastung-fuer-alle.html