- Fabian Kessl (Kuratoriumssprecher ISM; Universität Duisburg-Essen)
Offener Brief an die Essener Tafel
In den vergangenen Jahren hat eine Forschungsgruppe unter meiner Leitung an der Universität Duisburg-Essen und der TU Dortmund Tafeln, aber auch Suppenküchen, Kleiderkammern oder Sozialkaufhäuser, in fünf Bundesländern untersucht. Unser Ziel war es, ein genaueres Bild von diesen Angeboten zu bekommen. Wir hatten beobachtet, wie solche Angebote, die auf Basis von Spenden Menschen bei der Existenzsicherung unterstützen, seit Mitte der 1990er Jahre rapide gewachsen waren – und das im bundesdeutschen Kontext wie in vielen anderen europäischen Staaten. Doch als wir uns dieses Phänomen genauer anschauen wollten, konnte uns keiner genau sagen, wie viele solcher Angebote es eigentlich gibt. Auch wer die Träger von Tafeln oder Suppenküchen sind, war nur teilweise bekannt. Das hat uns motiviert, einmal genauer hinzuschauen. So haben in wir in fünf Bundesländern 45 Kommunen untersucht. In den Wohlfahrtsverbänden haben wir mit Leuten gesprochen, hunderte von Websites haben wir gesichtet, mindestens ebenso viele Anbieter angerufen und viele, viele andere informelle Quellen aufgetan. Denn erst so erhielten wir nach und nach Informationen über dieses schnell wachsende Feld von Angeboten der Armutslinderung; Angebote, die es inzwischen in fast allen Kommunen gibt. So eben auch die Tafel in Essen, die aber auch dort nur eines von vielen Dutzenden Angeboten in dieser Stadt darstellt.
Mindestens zwei Ergebnisse unserer Bestandsaufnahme haben uns wirklich überrascht: Alleine in den fünf Bundesländern, die wir untersucht haben, und in denen knapp 5 % der bundesdeutschen Bevölkerung leben (ca. 4 Mio.), müssen wir auf Basis unserer Recherchen von knapp 5000 Angeboten ausgehen. Das ist ein Vielfaches von dem, was bisher vermutet wurde. Häufig wird die Zahl von etwa 900 Tafeln von deren Bundesverband aufgerufen, oder eine Zahl von etwa 1200-1300 Angebote von den Wohlfahrtsverbänden genannt. Auf Basis unserer Untersuchung ist klar, dass wir es mit deutlich mehr Angeboten zu tun haben, die jeden Tag Millionen von Menschen Lebensmittel, Kleidung oder billige Gebrauchtmöbel zur Verfügung stellen. Was wir bei unseren Recherchen gefunden haben, ist ein ganzer Bereich der Existenzsicherung, der nur durch Spenden abgesichert wird, also auf das Mitleid von Gebern und Helfern angewiesen ist. Zugleich verdienen Spender, wie Supermärkte oder andere Unternehmen, damit durchaus Geld (direkt in Form von Steuerersparnissen oder durch eine Reduktion ihrer Müllgebühren und indirekt durch einen Imagegewinn als sozial engagierte Unternehmen). Wir haben uns daher dafür entschieden, von einer "neuen Mitleidsökonomie" zu sprechen.
Auch überrascht hat uns, dass fast alle der vorgefundenen Angebote mit Wohlfahrtsverbänden oder anderen Trägern sozialer Dienstleistungen organisatorisch verbunden sind: als Teil von der Caritas oder der Diakonie, oder als Parallelangebot zu einer Sozialberatung des Roten Kreuzes. Sie sind teilweise aber auch in die bestehenden Angebote dieser Träger eingewoben, wenn z.B. in einem Café für alkoholkranke Menschen das Essensangebot nur aufrechterhalten werden kann, weil die lokale Tafel dorthin Lebensmittel liefert. Die neue Mitleidsökonomie ist also längst ein selbstverständlicher Teil der Armutslinderung am Rande unseres Sozialstaats geworden, ja sie ist inzwischen so etwas, wie der "Schatten unseres Sozialstaats".
Doch das bleibt in der bisherigen gesellschaftlichen Debatte verdeckt, wie nun auch das Beispiel der Essener Tafel zeigt. Anstatt den Skandal der Selbstverständlichkeit von Tafeln laut und deutlich auf die öffentliche Agenda zu setzen, wird über ein angebliches Krisenmanagement diskutiert. Nutzergruppen werden gegeneinander ausgespielt – und das nicht nur in Essen. Der Essener Fall ist nur besonders skandalös, weil hier bestimmte Gruppen von Menschen diffamiert werden. Was hier passiert, ist nicht nur eine Verschiebung der sozialen Frage: statt das wir auf das "oben und unten" schauen, also die Armuts- und Reichtumsverhältnisse in einer Großstadt wie Essen problematisieren (die statistisch die stärkste soziale Polarisierung innerhalb der Stadtbevölkerung im Ruhrgebiet aufweist), wird hier ein "Innen und Außen" inszeniert: die "deutsche Rentnerin" gegen den "jungen ausländischen Mann". Das ist ein Skandal. Zugleich dürfen wir im Angesicht der notwendigen Kritik dieses Skandals nicht das strukturelle Problem übersehen: Die massive Armut und der steigende Reichtum (v.a. in den Vermögen), und damit verbunden die tendenzielle Überforderung kommunaler Grundsicherungsangebote. Das ist das grundlegende Problem, das in einer Stadt wie Essen politisch zu bearbeiten ist, und dort nicht alleine gelöst werden kann. Vor allem aber darf die Lösung dieses Problems nicht in die "neue Mitleidsökonomie" verlagert werden. Insofern sollten Angebote, wie dasjenige der Essener Tafeln, nicht nach "internen Lösungen" für das Armuts- und Reichtumsproblem suchen, das sich u.a. in einer immer größeren Nachfrage zeigt. Stattdessen sollten Tafeln, Suppenküchen, Sozialkaufhäuser und Kleiderkammern den sozialpolitischen Skandal öffentlich machen, der sich hinter ihrer Existenz verbirgt. Ich erinnere einmal an den Vorschlag, dass alle Angebote der "neuen Mitleidsökonomie" einmal drei Wochen ihre Tore schließen und ihre Nutzerinnen und Nutzer auffordern sollten, die notwendigen Leistungen zur Existenzsicherung stattdessen im Jobcenter oder im Sozialamt direkt einzufordern bzw. dort auf die unzureichenden Leistungen hinzuweisen. Dann würde sichtbar, was sich da für ein "Schatten des Sozialstaats" etabliert hat.
Die "neue Mitleidsökonomie", so auch die Essener Tafel, kann nur Nothilfe, also Armutslinderung, leisten, mehr nicht. Doch in einem Sozialstaat sollte jedem Gesellschaftsangehörigen das Recht auf Existenzsicherung gewährt werden. Das kann eine Tafel nicht anbieten. Auf deren Nutzung hat eben niemand ein Recht. Bei der Tafel oder in der Suppenküche ist jeder Nutzer auf die Loyalität der Helfer angewiesen. Wozu das führen kann, erleben wir aktuell in Essen: Eine beliebige Auswahl von Gruppen, die von der Ausgabe von Lebensmittel ausgeschlossen werden, oder eben bevorzugt werden. Das hat mit sozialrechtlichen Leistungen überhaupt nichts zu tun. Das ist nicht weniger als ein zivilisatorischer Rückschritt in vor-sozialstaatliche Zeiten, wo der einzelne immer nur auf die Hilfe des anderen hoffen konnte. Da waren wir historisch schon einmal weiter.
Essen, den 28. Februar 2018
Kontakt: fabian.kessl@uni-due.de