Solidarität statt Heimat
Ein Aufruf gegen Rassismus in der öffentlichen Debatte
Solidarität statt Heimat
Vom "gefährdeten Rechtsstaat" in Ellwangen über die "Anti-Abschiebe-Industrie", vom "BAMF-Skandal" über "Asylschmarotzer", von der "Islamisierung" bis zu den "Gefährdern": Wir erleben seit Monaten eine unerträgliche öffentliche Schmutzkampagne, einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Hetze gegen Geflüchtete und Migrant*innen, aber auch gegen die solidarischen Milieus dieser Gesellschaft. Die politischen Debatten über Migration und Flucht werden seit Monaten von rechts befeuert und dominiert – und kaum jemand lässt es sich nehmen, auch noch mit auf den rechten Zug aufzuspringen.
Doch nicht nur das. Inmitten einer immer noch lebendigen Willkommens- und Unterstützungsbewegung, inmitten der großen und wachsenden Proteste gegen die AfD, inmitten der beeindruckenden Kämpfe von Geflüchteten für ihr Recht auf ein gutes Leben und inmitten wachsender Bewegungen für eine nachhaltige, globale Gerechtigkeit wird vielerorts so getan, als sei der Rechtspopulismus der einzig maßgebliche Ausdruck der aktuellen gesellschaftlichen Stimmungslage. Diese Behauptung ist falsch. Und sie ist politisch fatal.
Es ist daher für uns an der Zeit, gemeinsam und eindeutig Stellung zu beziehen. Wir verweigern uns ausdrücklich der politischen Logik einer sich verfestigenden rechten Hegemonie. Wir wenden uns gegen eine Politik des Ressentiments – und gegen Strategien, die hieraus Kapital schlagen wollen für eine nur dem Anschein nach progressive oder soziale Politik. Wir sind uns sicher, dass es keine fortschrittlichen Antworten auf reaktionäre Fragen gibt. Der rechte Diskurs formuliert keine Probleme. Er ist das Problem.
Nennen wir das Problem beim Namen.
Es heißt nicht Migration.
Es heißt Rassismus.
In den letzten Jahren hat sich in weiten Teilen Europas ein politischer Rassismus etabliert, der die Grenzen zwischen den konservativen, rechten und faschistoiden Lagern zunehmend verschwimmen lässt. Für Deutschland gilt: Der bislang größte Erfolg der AfD war nicht ihr Einzug in den Bundestag. Ihr mit Abstand größter Erfolg ist, dass man sich in diesem Land wieder hemmungslos menschenverachtend geben und äußern kann. Rassismus ist wieder ganz normales Alltagsgeschäft geworden, im hohen Haus in Berlin wie beim Bäcker um die Ecke. Bei "Spitzenpolitikern" und Normalsterblichen, bei "Liberalen" – und selbst unter Linken.
25 Jahre nachdem der Deutsche Bundestag auf rechtsextreme Anschläge und Morde mit der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl antwortete, erleben wir wieder eine Politik, die ohne Not und am laufenden Band Zugeständnisse an rassistische Ressentiments macht. Es wird auf Abschottung und Ausschluss gesetzt, die Grenzen werden wieder hochgezogen, Schutzsuchende in Lager gesperrt, Menschenrechte missachtet, Bürgerrechte systematisch abgeschafft und dort, wo sie noch existieren, kaltschnäuzig umgangen.
Die Willkommensdiskurse des kurzen Sommers der Migration haben sich in feindselige Abwehrdiskurse verwandelt. Die Einschränkung des Familiennachzuges und die geplanten ANKER-Zentren beschneiden massiv die Rechte von Migrant*innen, erhöhen den existenziellen Druck auf sie und sind bloße Instrumente der Isolation und der Ausgrenzung. Länder, die von Krieg zerstört und von den Kriegsfolgen gezeichnet sind, werden zu sicheren Orten erklärt – aus den tatsächlich sicheren Amtsstuben eines Landes, das mit seiner Wirtschaftsweise systematisch zum Elend der Welt beiträgt. Heimatministerium, Abschiebeoffensive, Hetzkampagnen und institutioneller Rassismus gehören zum Alltag – doch der massive Protest aus der bürgerlichen Mitte bleibt aus.
Was ist eigentlich los in diesem Land?
Nicht nur die bürgerliche Mitte bekennt nicht Farbe. Auch Teile der politischen Linken machen Zugeständnisse an rechte Rhetorik und reaktionäre Ideen und verklären die Ablehnung von Migrant*innen sogar zum widerständigen Moment, ja unterstellen ihr einen rationalen, klassenpolitischen Kern. Doch eines muss klar sein: Rassismus ist niemals ein Akt des Widerstands. Und ebenso klar ist, dass der neue Rassismus, ob von rechts oder links, ohne uns läuft.
Diese Gesellschaft ist geprägt durch die zahlreichen, millionenfachen Geschichten der Migration. Migration ist eine Tatsache. Sie ist mindestens seit den Zeiten der "Gastarbeit" in der alten Bundesrepublik bzw. der "Vertragsarbeit" in der DDR und bis auf den heutigen Tag keine Gefahr, sondern eine Kraft der Pluralisierung und Demokratisierung dieser Gesellschaft. Im Sommer 2015 haben wir das erneut erlebt. Damals war die offene Gesellschaft der Vielen für alle real, sie war greifbar und lebendig.
Seitdem hat sich an den Gründen für Flucht und Migration nichts geändert. Geändert haben sich auch nicht die solidarischen Praktiken in den Stadtteilen und den Regionen. Verändert haben sich aber der öffentliche Konsens und der politische Wille, mit den Folgen des westlich-kapitalistischen Treibens in der Welt auf solidarische Weise umzugehen. Stattdessen verfolgt die Europäische Union im Konsens, trotz drei Jahrzehnten des Sterbens an Europas Grenzen, eine Verschärfung ihres Grenzregimes, die den Weg nach Europa noch tödlicher werden lässt und den Zugang zu Flüchtlingsschutz zu einem Gnadenrecht degradiert.
In Deutschland und Europa sind infolge der Ideologie "ausgeglichener" Haushalte wichtige Ressourcen für gesellschaftliche Solidarität blockiert. Dringend notwendige öffentliche Investitionen in soziale Infrastruktur, in Bildung, Gesundheit, Pflege, sozialen Wohnungsbau und eine integrative Demokratie bleiben aus. Der deutsche Pfad von Sparpolitik und einseitiger Exportorientierung schließt viele Menschen von Wohlstand aus, schafft prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen und nährt Zukunftsängste. Seine Probleme lassen sich jedoch nicht durch eine ständische oder nationalistische Wohlfahrtsstaatlichkeit lösen, die auf soziale Vorrechte und Abschottung setzt - und auf weltfremde Phantasien einer "Steuerung" von Migration und des wohligen Privatglücks in der "Heimat".
Das Ausblenden der sozialen Realitäten wird nicht funktionieren. Mit Zuschauen und Schweigen muss endlich Schluss sein: Wir werden Rassismus und Entrechtung konsequent beim Namen nennen. Wir werden uns dem neuen völkischen Konsens entziehen und uns allen Versuchen entgegenstellen, die Schotten der Wohlstandsfestung dicht zu machen.
Unsere Solidarität ist unteilbar – denn Migration und das Begehren nach einem guten Leben sind global, grenzenlos und universell.
powered by kritnet, medico international & ISM
Hier könnt ihr unterschreiben: https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org
Teilt den Aufruf auch gerne auf Facebook!
Erstunterzeichner_innen:
- Prof. Dr. Naika Foroutan, Berlin (Humboldt-Universität zu Berlin)
- Prof. Dr. Micha Brumlik, Frankfurt (Publizist und Autor)
- Ferda Ataman, Berlin (neue deutsche organisationen)
- Prof. Dr. Sabine Hark, Berlin (TU Berlin)
- Prof. Dr. Arjun Appadurai, New York City (New School)
- Amelie Deuflhard, Hamburg (Künstlerische Leitung / Intendantin Kampnagel)
- Prof. Dr. Stephan Lessenich, München (LMU - Institut für Soziologie)
- Prof. Dr. Paul Mecheril, Oldenburg (Carl von Ossietzky Universität)
- Volker Lösch, Berlin (Regisseur)
- Georg Diez, Berlin (Kolumnist Der Spiegel)
- Prof. Dr. Sabine Hess, Göttingen (Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie)
- Prof. Dr. María do Mar Castro Varela, Berlin (Alice Salomon Hochschule)
- Thomas Ostermeier, Berlin (Künsterischer Leiter, Schaubühne am Lehniner Platz)
- Florian Borchmeyer, Berlin (Leitender Dramaturg, Schubühne am Lehniner Platz)
- Günter Burkhardt, Frankfurt (Geschäftsführer PRO ASYL)
- Prof. Dr. Iman Attia, Berlin (Alice Salomon Hochschule)
- Mark Terkessidis (Journalist)
- Jagoda Marinic (Autorin)
- Ruben Neugebauer, Berlin (Sea Watch)
- Prof. Dr. Isabell Lorey (Universität Kassel)
- Natalie Bayer, Berlin (Leiterin des Friedrichshain-Kreuzberg Museums)
- Elise Bittenbinder, Berlin (Vorsitzende der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren (BAfF) e.V.)
- Prof. Dr. Heinz-Jochen Zenker, Berlin (Präsident Ärzte der Welt / Médecins du Monde Deutschland)
- Bini Adamczak, Berlin (Autorin)
- Dr. Medardus Brehl, Bochum (Institut für Diaspora- und Genozidforschung / Ruhr-Universität Bochum)
- Sebastian Huber, München (Chefdramaturg Residenztheater)
- Dr. Sabine Flick, Frankfurt/Berkeley (Goethe-Universität/Institut für Sozialforschung/UC Berkeley)
- Ulrich Schreiber, Berlin (Direktor des internationalen Literaturfestivals)
- Prof. Dr. habil. David Becker, Berlin (Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Berlin)
- Prof. Dr. Beate Binder, Berlin (Humboldt-Universität zu Berlin)
- Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu, Bremen (Universität Bremen)
- Shermin Langhoff, Berlin (Intendantin Maxim-Gorki-Theater)
- Gün Tank, Berlin (Geschäftsleitung Neue Deutsche Organisationen, NDO)
- Aiman A. Mazyek, Berlin (Vorsitzender Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD))
- MdL Andrea Ypsilanti, Frankfurt (SPD, Hessischer Landtag)
- Dr. Thomas Seibert, Frankfurt (Vorstandssprecher Institut Solidarische Moderne)
- Dr. Axel Troost, Leipzig (Vorstandssprecher Institut Solidarische Moderne)
- Milo Rau, Gent (Künstlerischer Leiter NT Gent)
- Prof. Dr. Sonja Buckel, Kassel (Universität Kassel)
- Dr. Stefan Bläske, Gent (Chefdramaturg NT Gent)
- Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß (Hochschule Merseburg)
- Marius von Mayenburg, Berlin (Autor und Regisseur, Schaubühne am Lehniner Platz)
- Cesy Leonard, Berlin (Zentrum für politische Schönheit)
- André Leipold, Berlin (Zentrum für politische Schönheit)
- Stefan Pelzer, Berlin (Zentrum für politische Schönheit)
- Barbara Wolff, Frankfurt (Frankfurter Arbeitskreis Trauma und Exil FATRA e.V.)
- Mario Neumann, Berlin (Aktivist)
- Prof. Dr. Angelika Epple, Bielefeld (Universität Bielefeld)
- Prof. Dr. Anna Amelina, Cottbus (BTU Cottbus)
- Bernadette La Hengst, Hamburg (Musikerin)
- Prof. Dr. Silja Klepp, Kiel (Universität Kiel)
- Pfarrerin Dagmar Apel, Berlin (EKBO/BMW)
- Prof. Dr. Rita Casale, Wuppertal (Bergische Universität Wuppertal)
- Dr. Markus Brunner, Wien (Sigmund-Freud-Universität)
- Zeljko Cunovic, Psychoanalytiker, Frankfurt (Frankfurter Psychoanalytisches Institut/ DPV/ IPA)
- Prof. Dr. Helmut Dahmer, Wien
- Jan Deck, Frankfurt (freier Theatermacher)
- Dr. Muriel González Athenas, Bochum (Ruhr Universität)
- Prof. Dr. Katja Diefenbach, Berlin/Stuttgart (Merz Akademie)
- Jasmin Ihraç, Berlin (Zeitgenössischer Tanz/Choreografie)
- Ivana Domazet, Potsdam (Flüchtlingsrat Brandenburg)
- Prof. Dr. Ina Kerner, Koblenz (Universität Koblenz-Landau)
- Sybille Fezer, Köln (medica mondiale e.V.)
- Dr Andrea Fischer-Tahir, Marburg (Universität Marburg)
- Daphne Büllesbach, Berlin (European Alternatives)
- Univ.-Prof. Dr Andrea Seier, Wien (Universität Wien)
- Irene Franken, Kön (Historikerin)
- Martin Singe, Bonn (Pax Christi)
- Prof. Dr. Cornelia Giebeler, Bielfeld (University of Applied Studies)
- Dr. Kurt Grünberg, Frankfurt (Sigmund-Freud-Institut)
- Kristine Listau, Berlin (Verbrecher Verlag)
- Dr. phil. Nadine Teuber, Frankfurt am Main
- Dr. Monika Hauser, Kön (medica mondiale e.V.)
- Prof. Dr. Susanne Spindler, Köln (Hochschule Düsseldorf)
- Jost Hess, Weiden (Arbeitskreis Asyl Weiden e.V.)
- Rechtsanwalt Dr. Matthias Lehnert, Berlin
- Dr. Anne Huffschmid, Berlin (Autorin metrozones)
- Prof. Dr. Julia Franz, Hannover (Hochschule Hannover)
- Prof. Dr. Annita Kalpaka, Hamburg (Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg)
- Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, Freiburg (Catholic University of Applied Sciences)
- Prof. Dr. Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Gießen (Justus-Liebig-Universität )
- Prof. Dr. Alexandra Karentzos, Darmstadt (Technische Universität Darmstadt)
- Karl Kopp, Frankfurt (PRO ASYL)
- Dr. des. Vanessa E. Thompson, Frankfurt am Main (Goethe-Universität Frankfurt)
- Prof. Dr. Gesa Köbberling, Freiburg (Evangelische Hochschule)
- Dr. Stephan Milich, Köln (Universität zu Köln)
- Johanna König, Melbourne & Frankfurt am Main (Goethe Universität Frankfurt)
- Dr. Daniel Loick, Frankfurt/Erfurt (Max Weber Kolleg)
- Dr. Judith Lebiger-Vogel, Frankfurt (Sigmund-Freud-Institut)
- Arne Semsrott (netzpolitik.org)
- Dan Thy Nguyen, Hamburg (Regisseur)
- Dr. Julia König, Frankfurt am Main (Goethe Universität Frankfurt)
- Dr. Jan Lohl, Frankfurt (Sigmund-Freud-Institut)
- Dr. des. Alexander Vorbrugg, Bern (Geographisches Institut, Uni Bern)
- Prof. Dr. Lena Inowlocki, Frankfurt (Frankfurt University of Applied Sciences)
- Prof. Dr. Heidemarie Winkel, Bielefeld (Universität Bielefeld)
- apl. Prof. Melanie Ulz, Osnabrück (Kunsthistorisches Institut)
- Univ.-Prof. Dr. Johannes Reichmayr, Wien (Sigmund Freud Privatuniversität Wien)
- Maike Melles, Frankfurt am Main (Frobenius-Institut für kulturanthropologische Forschung an der Goethe-Universität Frankfurt)
- Bernd Mesovic, Frankfurt (PRO ASYL)
Die vollständige Liste der Unterzeichner*innen findet sich hier.