Revolte der Würde
In Italien verbinden sich Kunst, Religion und die Kämpfe von Arbeitsmigranten
- Medico
Kunst, Politik und Religion vereinen sich im Projekt eines Neuen Evangeliums, das die Lage von Sklavenarbeiter*innen in Europa skandalisiert. Ein Bericht von ISM-Vorstandsmitglied Thomas Seibert.
Die Stadt Matera im äußersten Süden Italiens ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas. Das Motto, das sie sich dazu erwählt hat, zielt auf die Zukunft und feiert sie als eine offene Zukunft. Der Theaterregisseur Milo Rau und eine Handvoll afrikanischer Aktivist*innen haben dieser Feier einen unerwarteten Ernst verliehen. Sie haben die Stadt zu dem Ort erhoben, an dem Europa und der Welt ein "Neues Evangelium" verkündet wird: das Evangelium einer "Revolte der Würde". Ihr erster Protagonist heißt im wirklichen Leben Yves Sagnet und führt eine Selbstorganisation afrikanischer Migrant*innen an, die in der weiteren Gegend um Matera als Sklavenarbeiter*innen schuften. Zu den Nutznießern dieser Sklaverei zählen auch wir, die Bürger*innen Europas, die in den Supermärkten der Europäischen Union die Tomaten billig einkaufen, die im Land um Matera von Sklav*innen aus Afrika geerntet werden.
Matera ist das neue Jerusalem
Damit das Martyrium zehntausender Sklavenarbeiter*innen in Europas offener Zukunft bald ein Ende findet, hat Sagnet den Namen Jesus Christus und haben seine engsten Mitstreiter*innen die Namen der Apostel angenommen, die seine Mission begleiten. Einer von ihnen ist ein italienischer Bauer, der im wirklichen Leben Vito heißt, jetzt aber den Namen des Apostels Bartholomäus trägt.
Vergangenen Sonntag, am 28. September, versammelten sie sich unterhalb des Domplatzes von Matera und schrieben ihre Forderung nach einem Ende von Ausbeutung und Unterdrückung und nach Wiederherstellung ihrer Würde auf Transparente. Mit diesen Transparenten stiegen sie dann den gewundenen Weg zum Dom auf, von dessen Treppen sich vier der Apostel und zuletzt der neue Messias an eine schnell anwachsende Menge wandten. Sie sprachen dieser Menge von ihrem Schicksal: von der jahrhundertealten und noch immer fortgesetzten Zerstörung Afrikas, von ihrer Flucht aus dem vom europäischen Kolonialismus und vom globalen Kapitalismus verwüsteten Kontinent. Von ihrer Ankunft in Europas offener Zukunft, die sie zunächst in die Elendsghettos rund um Matera geführt hat.
Dann sprachen sie von den Bedingungen ihres Sklavendaseins, von der täglichen Plackerei in den Tomaten- und Olivenplantagen, vom nackten Kampf ums Überleben unter der Willkür der Plantagenbesitzer, sie sprach auch von der Gewalt der Mafia, die die Verteilung der neuen Sklav*innen auf die Plantagen zu ihrem Geschäft gemacht hat. Sie sprachen von der Verfolgung durch die Polizei des italienischen Staats, die zuletzt unter dem Befehl eines faschistischen Innenministers stand. Dann sprachen sie von den Profiteuren ihrer Qual: nicht nur von den Grundbesitzern und der Mafia, sondern auch von den transnationalen Supermarktketten. Deren Gewinnanteile sind mit Abstand die größten: größer als die der Grundbesitzer, größer als die der Mafia. Sie sprachen aber nicht nur von ihrer Ohnmacht, sondern auch von ihrer Wut, und von ihrer Entschlossenheit, ihrem Schicksal zu entkommen.
Als die Reden gehalten waren, verteilten Aktivist*innen tausende Tomaten auf dem Domplatz, die der neue Messias und seine Apostel, unterstützt von Kindern aus Matera, dann zertrampelten. Am Ende war der Platz vor dem Dom rot gefärbt – tomatenrot – und die Aktion ging in ein ausgelassenes Fest über, es wurde gesungen, getanzt und getrunken.
Kunst, Politik und Religion
Das besondere dieser Aktion lag darin, dass sie zugleich eine wirkliche politische Aktion und ein Spiel der Kunst war: die erste große Sequenz des Films "Das Neue Evangelium", erdacht von dem Regisseur Milo Rau und seinem "Internationalen Institut für politischen Mord", ausgearbeitet und gespielt von afrikanischen Migrant*innen, die in Italien zu politischen Aktivist*innen wurden, unterstützt von NGOs aus europäischen Ländern, darunter medico international.
Der Film wird ein politischer Film sein, der auf nicht weniger als auf eine radikale Veränderung Italiens, Europas, Afrikas und der Welt zielt, auf eine Veränderung von Grund auf, eine grundstürzende Veränderung. Als dieser Film aber wird er zunächst "nur" ein Werk der Kunst sein: ein imaginärer Vorgriff auf eine Realität, die noch aussteht, deren Zeit noch nicht gekommen ist. Dass dem so ist, ist auch und gerade in Matera spürbar, in diesem Jahr Kulturhauptstadt Europas und seiner noch immer offenen Zukunft. Denn die Aktivist*innen, die zugleich die Schauspieler*innen dieses Films sind, bilden nur eine kleine Minderheit unter den afrikanischen Sklavenarbeiter*innen in Italien und anderswo in Europa. Die überwiegende Mehrheit der Anderen, so erzählen der Regisseur und sein Messias Yves Sagnet, kämpft bislang nur um ihr nacktes Überleben: darum, überhaupt auf den Plantagen um Matera arbeiten zu können. Darum, den Schlafplatz nicht zu verlieren, den sie in einem der Ghettos um Matera gefunden haben. Darum auch, nicht von den Häschern des Faschisten Salvini und seines "demokratischen" Nachfolgers gefangen genommen zu werden, um aus Europas offener Zukunft in die düstere Gegenwart des von Europa ausgeplünderten Afrika zurück geschickt zu werden.
Der Film greift insofern auf eine Revolte vor, die er selbst mit anzustacheln versucht. Und: Er wird versuchen, aus den Bürger*innen Europas, die ihn ab dem Herbst 2020 in den Kinos Europas sehen werden, Mitstreiter*innen dieser Revolte zu machen: Menschen, die endlich den Satz Jesus Christus verstehen, der im September 2019 von einem afrikanischen Aktivisten wiederholt wurde. Einem Aktivisten, der selbst als Migrant nach Europa kam und dann als Sklavenarbeiter auf einer Tomatenplantage geschuftet und in einem der Ghettos um Matera gehaust hat. Das Matthäus-Evangelium gibt diesen Satz mit den Worten wieder: "Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen." (Matthäus 5, 17).
Solange die Revolte der Würde, von der Yves Sagnet und seine Apostel sprachen, nur von Minderheiten getragen wird, solange werden die Politik und die Kunst die Religion brauchen, um sich auszusprechen und gehört zu werden. Ob das so bleiben wird oder ob das in nicht zu ferner Zukunft anders werden kann, darin genau liegt die Offenheit dieser Zukunft: "Man kann einen Kampf nicht verlieren", sagt Milo Rau, "man kann ihn nur nicht kämpfen."