Das 9 Euro-Ticket muss weitergehen – für Bus und Bahn statt Autowahn
Beitrag von Sabine Leidig aus dem ISM-Vorstand
- IgorCalzone1/Wikimedia_Commons
Das 9-Euro-Ticket kann zum Türöffner für die längst überfällige sozial-ökologische Verkehrswende werden. Der öffentliche Nahverkehr ist endlich eine politische Angelegenheit. Mit diesem Rückenwind, muss Umverteilung durchgesetzt werden für gerechte(re) Verkehrsverhältnisse; gegen die Profiteure und Apologeten der zerstörerischen Autogesellschaft.
Das 9-Euro-Ticket ist ein Publikumsliebling: 98 Prozent der Bürger*innen kennen es. 70 Prozent wollen, dass es weiter geht. Für 10 Millionen Abokund*innen gilt es automatisch und 20 Millionen haben es gekauft. Jede*r Fünfte hat zuvor die Öffis nicht genutzt. In 23 von 26 untersuchten Städten gibt es weniger Stau. Das 9-Euro-Ticket ist für viele eine spürbare finanzielle Entlastung angesichts der steigenden Energiepreise (das war ja auch der Grund für die Einführung). Und es ermöglicht einkommensarmen Menschen Mobilität und Teilhabe. Dass auch diejenigen mal eine Reise unternehmen, die sich das sonst nicht leisten können, ist ein Gewinn. Und es ist einfach einfach: ein Preis und ein Ticket fürs ganze Land. Schluss mit der Kleinstaaterei von 60 Verkehrsverbünden, mit unzähligen Zonen, Tarifen und Verzweiflung an Ticketautomaten. Was unerreichbar schien ist plötzlich da, weil Bundesregierung und Bundestag mit 2,5 Milliarden Euro das nötige Geld bereit gestellt und Kooperation verlangt haben. Beides ist richtig und wichtig.
Das 9-Euro-Ticket muss bleiben!
Es ist der erste angemessene gesamtdeutsche Öffi-Tarif für ein breitenwirksames, ökologisches und soziales Mobilitätskonzept. Die Initiative 9-Euro-Ticket weiterfahren wirbt dafür und ruft zu Aktionstagen auf. An möglichst vielen Orten wollen wir noch in diesem Monat viele Unterstützer*innen gewinnen. Am 27. August wird vorerst der Höhepunkt sein und wir hoffen, dass sich vor Ort Initiativen finden, die politischen Druck organisieren. Denn ohne eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung, ohne massenhafte Meinungsäußerung und öffentliche Aktionen, ohne gemeinsame Aktivität wird es nicht gehen. Der Bundesfinanzminister und der Bundesverkehrsminister wollen das 9-Euro-Ticket am 31. August beerdigen. Noch ist keine Nachfolge in Sicht. Auch nicht ein Jahresticket für 365 Euro, das für die meisten ebenfalls eine gute Option wäre.
Den Gestrigen ein Stück Zukunft abtrotzen
Noch bevor das 9-Euro-Ticket am 1. Juni begonnen hat, beantragte die AfD-Fraktion im Bundestag schon das Aus: Statt Pendler zu unterstützen, würden Freizeitverkehr gefördert – und das alles auf Kosten der Autofahrer, die nicht entlastet würden. Auch Finanzminister und FDP-Leitfigur Lindner tritt gegen die Verlängerung an. Es lohnt sich, seine Behauptungen zu entkräften.
Erstens: es sei kein finanzieller Spielraum vorhanden für „weitere Rabattaktionen im Nahverkehr“. Dabei liegt wohl die Betonung auf dem (öffentlichen) Nahverkehr. Denn Rabatte für Dieseltreibstoff, Kerosin, Elektroautos oder Dienstwagen sind für die FDP kein Thema. Letzterer geht nicht in erster Linie an Handwerker oder Schicht arbeitende Pflegerinnen. Nur fünf Prozent aller Fachkräfte haben einen Firmenwagen. Bei den Führungskräften mit Jahreseinkommen ab 150.000 Euro sind es 63 Prozent. Die meisten besonders umweltschädlich und teuer. Wer mit Fingern auf Reisende zeigt, die das 9-Euro-Ticket für Freizeitfahrten „ausnutzen“ lenkt ab. Wer private Fahrten (auch in den Urlaub) mit dem Dienstwagen unternimmt zahlt nichts. Die Tankkosten übernimmt der Arbeitgeber; er setzt diese von der Steuer ab. Jahr für Jahr kostet dieser Auto-Rabatt für Anschaffung und Betrieb von Dienstwagen den Staat mehr als drei Milliarden Euro. Davon profitieren Unternehmen und vor allem Wohlhabende. Der größte Rabattbatzen für Auto- und Lkw-Verkehr ist die Diesel-Subvention. Laut Bundesrechnungshof 9,5 Milliarden Euro – pro Jahr! 1990 eingeführt, um den europäischen Wirtschaftsverkehr zu fördern, werden bis heute damit vor allem schwere und hochmotorisierte Pkw gepusht. Wenn Diesel wie Benzin besteuert würde (höher an der Tankstelle, niedriger bei der KfZ-Steuer) wären 7 bis 8 Milliarden Euro übrig.
Für den Flugverkehr gibt es auch riesige Rabatte: rund acht Milliarden Euro, weil auf die Besteuerung von Kerosin verzichtet wird. Plus 4 Milliarden Euro, weil auf internationale Flugtickets keine Mehrwertsteuer erhoben wird. So wird die klimaschädlichste Fortbewegungsart Jahr für Jahr staatlich gefördert. Und das ist auch noch sozial höchst ungerecht, weil die reichsten am meisten fliegen, die ärmsten 20 Prozent nie.
Kurz: Ohne die sozial und ökologisch ungerechten Rabatte, zur Förderung von Auto-, Lkw- und Flugverkehr, wären über 20 Milliarden Euro mehr im Budget. Das 9-Euro-Ticket auf Dauer würde die Hälfte kosten.
Zweitens (so der Minister), es sei nicht fair, dass Menschen auf dem Land, die keinen Bahnhof in der Nähe haben und auf das Auto angewiesen sind, den günstigen Nahverkehr subventionieren würden. Warum diese Frage bei oben genannten Subventionen keine Rolle spielt, bleibt das Geheimnis von Herrn Lindner. Immerhin haben bundesweit 19 Prozent aller Haushalte kein Auto. In Städten sind es über 30 Prozent – in großen Berliner Bezirken wie Kreuzberg sogar weit mehr als die Hälfte. Sie alle subventionieren fette Firmenwagen und dicke Diesel mit.
Drittens mag Minister Lindner nicht die "Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen". Soso; aber Gratismentalität á la bedingungslose Dividende stört ihn nicht. Im Gegenteil: Die FDP blockiert eine Übergewinnsteuer, mit der ein Teil der Extraprofite abgeschöpft würden, die große Energiekonzerne gerade einfahren. Wer wissen will, was Klassenpolitik ist, findet hier ein Paradebeispiel.
Die Erde brennt – es darf nicht so weiter gehen!
Seit einigen Jahren steht beim Ranking der Sorgen die Bürger*innen hier zu Lande umtreiben, die Klimaveränderung noch vor der Wohnungsfrage. Nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die Erderhitzung nicht nur im globalen Süden dramatische Überschwemmungen, unerträglich hohe Temperaturen oder tödliche Dürren vermehrt. Auch in Brandenburg brennen die Wälder und am Rhein können Unwetter ganze Häuser wegspülen. Schon deshalb sind anderes Wirtschaften, genügsamer Wohlstand und gesellschaftliche Vorsorge dringend geboten. Auch der globale Raubbau an Natur und Menschen ist eine wachsende Gefahr für unser Überleben. Weil Ökosysteme kollabieren. Und weil die wachsende Konkurrenz um Rohstoffe die kriegerische Konfrontation von Atommächten verschärft.
Bleiben wir beim Thema Verkehr: Selbst nach den größten Demonstrationen von Fridays For Future (im September 2019 waren allein in Deutschland 1,2 Millionen Menschen für entschlossenen Klimaschutz auf der Straße), ist die Zahl der Autos weiter gewachsen und auch deren Größe und Gewicht. Der weltgrößte Autokonzern VW, aber auch Daimler und BMW verzeichnen wachsende Gewinne. Der C02-Ausstoß ist unvermindert. Mit einem Auto das durchschnittlich 1,2 Tonnen wiegt werden durchschnittlich 1,2 Personen transportiert, in durchschnittlich einer von 24 Stunden pro Tag. Ein so teures, egoistisches, und ineffizientes Verkehrssystem, das mit Abgasen, Lärm und Platzbedarf vor allem die Armen belastet, ist unvereinbar mit einer solidarischen Moderne.
Das gilt auch für Elektroautos. Sinnvolle und verallgemeinerbare Elektromobilität findet auf der Schiene statt. Trotzdem lässt auch dieser Verkehrsminister weiter neue und breitere Autobahnen bauen - auch gegen massive Proteste. Für noch mehr Lkw- und Autoverkehr. Dafür werden wertvolle Wälder gerodet, Trinkwasserquellen gefährdet, intakte Moore zerschnitten, werden Megatonnen Beton in Landschaften und Städte gegossen als gäbe es kein Morgen. Dabei wäre jeder Cent nötig für Ausbau und Barrierefreiheit von Öffis, für gute Verbindungen und garantierte Anbindung im ganzen Land. So wie in der Schweiz. Jahrzehntelang wurden Bahnhöfe, Gleisanlagen Werkstätten vernachlässigt, abgebaut, kaputtgespart und Straßenverkehr forciert. Selbst dort, wo seit Jahren Erweiterung vorgesehen ist, fehlt es an Kapazitäten für Planung und Umsetzung, die werden in der Autobahn-GmbH gehortet. Jetzt muss endlich umgeschichtet werden. Es ist höchste Eisenbahn!
Lasst uns die angezogenen Handbremsen lösen
Leider bekommt das 9-Euro-Ticket nicht nur von Verfechtern der herrschenden Verkehrspolitik Gegenwind. Auch Gewerkschaften und manch geschätzter Verkehrswende-Experte stehen auf der Bremse. Warum?
Noch im Mai hat die Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG das 9-Euro-Ticket begrüßt. Wohl wissend, dass das für die Beschäftigten eine zusätzliche Belastung bringen würde. Dann kam das Pfingstwochenende, Riesenandrang, vielerorts Chaos an den Bahnsteigen, ungeübte neue Fahrgäste – Stress pur. Noch mehr als sonst zu Ferienbeginn. Und mit mehr Personalausfällen wegen Coronainfektionen. Danach die Kehrtwende: Die Bahngewerkschaften sprechen sich gegen die Fortführung des 9-Euro-Ticket aus. Weil sich gezeigt hat, dass sehr viele Menschen die Öffis nutzten, wenn Preis und Angebot stimmen. Weil es kein Nachfrage- sondern ein Angebotsproblem gibt. Die EVG will zwar, dass der ÖPNV langfristig kostenlos wird, vorher müsse jedoch das Angebot und die Kapazitäten flächendeckend ausgebaut werden.
So richtig die Forderung ist, so falsch ist die Strategie; der Rückzug im Moment des größten Rückenwindes! Wenn endlich Engstirnigkeiten in Verkehrsverbünden bröckeln, wenn sogar Unionspolitiker ihr Herz für den öffentlichen Nahverkehr entdecken, wenn das einfach Einsteigen konkret erfahren wird – und vor allem: wenn viele Millionen weiter so unterwegs sein wollen! Jetzt steht das Möglichkeitsfenster offen. Was aber, wenn ab September nicht nur die krassen Preissteigerungen für Lebensmittel und vor allem für Strom, Warmwasser und Heizung zu Buche schlagen, sondern auch noch die Fahrkarten wieder teuer werden – noch teurer gar als zuvor? Wird es gelingen, eine gesellschaftliche Allianz für gerechte Umverteilung zu schmieden? Und werden sich dann noch genügend Leute für die Öffis engagieren?
Das mangelhafte ÖPNV-Angebot ist ja ein alter Hut. Die Forderungen nach Ausbau auch. Und obwohl die Ticketpreise seit Jahren schneller steigen als die „normale“ Inflation und ein reguläres Monatsticket durchschnittlich 80 Euro kostet (für einen einzigen Verkehrsverbund), blieb der Zustand mangelhaft. Wann, wenn nicht jetzt, könnten Millionen für Verkehrswende-Politik aktiviert werden?
Die gleiche Frage gilt denjenigen, die seit Ewigkeiten für Verkehrswende und die Reduzierung von Verkehr eintreten. Ja, es sind mit diesem 9-Euro-Ticket Fahrten unternommen worden, die sonst gar nicht stattgefunden hätten. Weil sich jede*r Fünfte weder ein Auto, noch den „teuren Spaß“ einer Regionalbahnfahrt zum Beispiel von Kassel zur Tante nach Bielefeld leisten kann, die hin und zurück mindestens 40 Euro kostet. Warum konzentrieren wir unsere Kritik nicht auf die zusätzlichen Autofahrten und Flugreisen, die nur deshalb stattfinden, weil diese Verkehrsmittel subventioniert und mit allerbester Infrastruktur immer weiter gefördert werden? Wie wäre es, für den Moment die soziale Gerechtigkeit nach vorne zu stellen und Millionen Mitstreiter*innen zu gewinnen, die endlich auch mobil sein wollen?! Wir wollen doch Mobilität für alle – mit weniger Auto!verkehr. Alles was konzeptionell dazu nötig ist, liegt auf dem Tisch. Schon lange. Aber die Kräfteverhältnisse passen (noch) nicht.
Das 9-Euro-Ticket ist nicht die Lösung für alle Verkehrsprobleme, es ist aber auch nicht Schuld an diesen Problemen. Im besten Fall kann es zum Wendepunkt, zum „Game-Changer“ werden – mit vereinten Kräften. Warum nicht mit einer großen Kampagne in allen Bussen und Bahnen, mit der Gewerkschafter*innen alle Fahrgäste zu Verbündeten machen zur Großdemonstration aufrufen, Sonderzüge und Demobusse auf die Beine stellen, das Finanzministerium belagern und mit den Klimaaktivist*innen und Autobahngegner*innen gemeinsam das Notwendige erkämpfen? Nur mal so eine Idee.
Mehr Informationen zu der Initiative 9 Euro-Ticket weiterfahren, die auch aus der ISM-Vernetzung für eine solidarische Verkehrswende entstanden ist, und wie diese unterstützt werden kann, gibt es unter: https://9-euro-ticket-weiterfahren.de/